Die Sprache des Körpers

2. Juni 2023 | Event

Ballett von Shechter und Montero. Im Staatstheater Nürnberg wird „Anthem“ das erste Mal in Deutschland aufgeführt. Die Übersetzung der Choreografie in einen anderen Kulturkreis bekam durch das Nürnberger Ensemble einen ganz neuen Spirit.

Text: Heike Aigner Bilder: Jesús Vallinas

Ballett gehörte schon immer zu meinen großen Leidenschaften. Mit Enthusiasmus bin ich dafür schon im Alter von vier Jahren angetreten. Allein die Musik barg immer etwas Verheißungsvolles, verführte zu einer besonderen Hingabe an den Tanz. Man fühlte sich von ihr angetrieben und bereits zur Primaballerina berufen. Ich habe es leider in neun Jahren nicht zu der Perfektion gebracht, die mich auf eine erfolgreiche Karriere hätte hoffen lassen.  Wenn ich heute Aufführungen wie „Anthem“ von Goyo Montero oder „tHE bAD“ von Hofesh Shechter sehe, bin ich sprachlos ob der Ausdrucksstärke und gleichzeitiger Leichtigkeit, denn ich kann mich gut erinnern, wie schwer es ist, schwerelos zu wirken und dabei noch Haltung zu zeigen.
Im klassischen Ballett geht es meist um eine Geschichte, in der den Protagonisten durch die Choreografie und die Themen in der Komposition eine Persönlichkeit zugeschrieben wird. Moderne Tanzchoreografien verfolgen oft einen anderen Zweck – die Aussage steht im Vordergrund. Es geht neben der Unterhaltung vor allem um Denkanstöße und Botschaften, die verkörpert werden.

„Anthem“

Von zeitgenössischen Schriftstellern inspiriert, wie beispielsweise Yuval Noah Harari mit „Eine kurze Geschichte der Menschheit“, setzte sich Montero in „Anthem“ mit der Entwicklung der Menschheit aus dem Blickwinkel der Sprache auseinander. Mit der kognitiven Revolution wurde der Homo Sapiens zum denkenden und fühlenden Wesen. So entstand aus bloßen Lauten eine Sprache, die neben Verständigung und Emotionen dem Menschen zu seinem intellektuellen Selbstbild verhalf.

In „Anthem“ sehen wir den ganzen Wirkungsradius menschlicher Stimme in einem Mantra, einer Hymne, Wiege-, Liebes- und Protestliedern, vom ersten Schrei bis hin zum letzten Atemzug.
Owen Belton komponierte dazu ein Klangkunstwerk mit einer einzigen menschlichen Stimme, seiner eigenen. In Kombinationen mit dem situativen Grundrauschen menschlicher Ereignisse entstand im Spannungsfeld von Individualität und kollektiver Identität ein Lied, das ganz ohne Unterbrechung wie ein fließender Strom die Stimme der Menschheit zeichnet.
Das Ensemble trägt in „Anthem“ an Statuen erinnernde, archaisch anmutende, erdfarbene Ganzkörpertrikots, entworfen vom Designer Fábio Mataname nach einem Konzept von Goyo Montero. „Pate für die Kostüme stand die Idee einer Statue. Ein realistisches Monument eines Menschen, aus Holz oder Marmor, vielleicht aus Stein. Im Hinterkopf hatte ich das Bild von Minenarbeitern, die im Kreide- oder Kalkabbau ihre Tage fristen und sklavenartige Arbeit verrichten. Sie sind völlig mit weißem Staub bedeckt. Ausgehend von diesem Gedanken entwickelten wir das Konzept des Kostümbildes. Das verwendete Material ist Leinen – robust, klar, transparent und ursprünglich. Der Stoff bekam eine weiße, den anatomischen Linien der Tänzerinnen folgende Einfärbung mit gummiartiger Latex-Farbe. So wirken die Kostüme wie mit einer Patina aus Staub bezogen. Sie suggerieren aber auch die Assoziation an das Aussehen eines ethnischen Stammes, vielleicht ein Stamm der Aborigines oder anderer indigener Völker, die naturverbunden leben. Es besteht aber auch die Möglichkeit, die Gruppe als eine postapokalyptische Gesellschaft zu erkennen, die trotzdem wie Wesen eines Naturvolkes wirken. Mit diesen Gegensätzen spielten wir. Durch die individuelle Bemalung zeigen die Kostüme viel von den Körpern, und somit auch von dem Muskelspiel beim Tanz. Manchmal entsteht sogar die Illusion, dass die Tänzer und Tänzerinnen nackt sind“, beschreibt Montero.

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Der Entstehungsort von „Anthem“ ist Brasilien.

Die Bühne ist schlicht gehalten und wird maßgeblich vom Lichtdesign von Nicolás Fischtel in Kooperation mit Goyo Montero gestaltet. Mobile Beleuchtungselemente schaffen einen abstrakten Raum, in dem die Aufmerksamkeit des Publikums gelenkt und fokussiert werden kann.
Der Entstehungsort von „Anthem“ ist Brasilien. Montero hat die Choreografie ursprünglich 2019 in Brasilien mit dem renommierten São Paulo Companhia de Dança uraufgeführt. Das Land, seine Geschichte und Mentalität des Ensembles verleihen dem Stück seinen ganz eignen Spirit. „Anthem ist ein politisches und sozialkritisches Werk. Brasilien wurde im Laufe der Jahrhunderte kolonialisiert, die Menschen unterdrückt. Auch heute sind Missstände deutlich zu sehen. Doch die Gesellschaft wehrt sich und drückt sich über Protestaktionen aus“, so Montero. „Unter der Regierung von Präsident Bolsonaro, also in der Zeit, als Anthem entstand, wurden die Menschenrechte eklatant in Frage gestellt und die Grundbedürfnisse vieler Menschen negiert. Diese Ungerechtigkeit wollte ich in Anthem verarbeiten. Denn das zu sehen, hat mir auch nochmals eindrücklich bewusstgemacht, wie glücklich wir uns in Europa schätzen dürfen, in einer Gesellschaft, in der die Menschenrechte geachtet werden und nahezu jeder seine Grundbedürfnisse erfüllt sieht“, erklärt Montero.
In Nürnberg wird „Anthem“ das erste Mal in Deutschland aufgeführt. Die Übersetzung der Choreografie in einen anderen Kulturkreis bekam durch das Nürnberger Ensemble einen ganz neuen Spirit.

 

„tHE bAD“

Stücke von Hofesh Shechter, einer der aufregendsten Protagonisten der zeitgenössischen Tanzszene, sind von explosiven Choreografien, bombastischen Musiktracks und politischer Relevanz geprägt. Der künstlerische Direktor der „Hofesh Shechter Company“ kreiert die epischen Soundtracks zu seinen Werken selbst, um so die einzigartige Körperlichkeit seiner Tanzbewegungen zu unterstreichen.
„tHE bAD“ ist ein Stück, das intuitiv entstanden ist. Muster, Strukturen und Regeln außer Kraft gesetzt, war zunächst einzig der Gedanke über das „unwahrscheinlichste“ Kostüm einer Tänzerin oder eines Tänzers der Ausgangpunkt für die Kreation des Stücks. Der goldene, eng anliegende Bodysuit wurde zum zentralen Element, um den sich die Choreografie entwickelt hat. Eine weitere Besonderheit war, dass das Stück nachts und gemeinsam mit dem ganzen Ensemble Schritt für Schritt erarbeitet wurde.

„Die regelüblichen Arbeitszeiten hätten das Gefühl mit sich gebracht, dass man einfach seinen Job macht. Jedoch wollte ich aus dieser Denkweise raus und andere Teile des Gehirns erreichen. Da wir in einer Kollaboration mit Wiesbaden standen, bekamen wir in der Stadt ein Ballettstudio für die Nacht zur Verfügung gestellt. Es lag buchstäblich wie ein Bunker unter der Erde. Wir trafen uns dort also ab 23 Uhr und arbeiteten ohne festes Regelwerk. Wir gingen nach unserem Gefühl: Brauchten wir eine Pause, machten wir eine, wollten wir für heute Schluss machen, gingen wir nach Hause. Manchmal arbeiteten wir bis zwei, manchmal bis vier Uhr morgens. Es war ein Versuchsballon“,  erklärt Shechter.

„tHE bAD“ wurde 2015 durch die „Hofesh Shechter Company“ in Manchester uraufgeführt.
Für die Nürnberger Compagnie wurde das Stück von fünf auf zwölf Tänzerinnen und Tänzer umgearbeitet. „Ich mag das Nürnberger Ensemble sehr gerne. Sie sind so leidenschaftlich bei allem, was sie tun. Der Funke springt schnell über. Sie sind außerdem anpassungsfähig, flexibel und einfach ausnahmslos bereit, sich auf meine Arbeit einzulassen, ja, regelrecht reinzuwerfen“ so Shechter.
So unterschiedlich wie beide Werke in Ausdruck, Bewegung, Musikstil auch sind, verbindet sie dennoch der Rhythmus des aktuellen Zeitgeistes sowie der Anspruch an politische Relevanz.

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„Der goldene, eng anliegende Bodysuit wurde zum zentralen Element, um den sich die Choreografie entwickelt hat.“
Bilder: Jesús Vallinas

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ONLINE StaatstheaterNuernberg Ballett Goyo Montero c Guenter Distler

Goyo Montero
Bild: Jesús Vallinas

ONLINE Staatstheater Nuernberg Ballett Hofesh Shechter c Hugo Glendinning

Hofesh Shechter
Bild: Jesús Vallinas

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