Die digitale Identität der Menschen entwickelt sich in rasantem Tempo. Aus zahlreichen Bildern, Videos, Kommentaren, Likes und Avataren entsteht über Jahrzehnte eine virtuelle Version unseres Selbst.
Text: Heike Aigner Bilder: Konrad Fersterer
Was wäre, wenn Menschen im virtuellen Raum lebendig bleiben?
Nach unserem Ableben bleibt weit mehr übrig als nur ein schönes Fotoalbum. Wir hinterlassen Spuren im Netz und bleiben für immer im virtuellen Raum. Manch einem kann man nach seinem Tod immer noch auf WhatsApp schreiben. Das Profil leuchtet dort immer noch, auch auf Facebook und Instagram. Diese Präsenz erzeugt ein eigenartiges Gefühl. Was wäre, wenn Menschen im virtuellen Raum lebendig bleiben? Wird der Geist irgendwann virtuell weiterexistieren? Werden wir dann über den Tod hinaus kommunizieren können? Und ist das überhaupt erstrebenswert?
Einen Versuch in diese Richtung zeigt uns eine koreanische TV-Show. Dort können wir eine Mutter in einer VR-Umgebung sehen, wie sie mit der Kopie ihrer verstorbenen Tochter Kontakt aufnimmt. Acht Monate wurden Informationen über das Mädchen zusammengetragen. In der virtuellen Welt kommt sie ihrer Mutter entgegen und fragt: Wo warst du, Mama? Hast du an mich gedacht? Die Mutter bricht in Tränen aus und versucht das Kind zu umarmen. Was soll man davon halten? Was passiert mit uns, wenn wir in dieser Form an unseren Liebsten festhalten? Mit dem Thema der Virtualität von Menschen beschäftigt sich das neue Extended Reality Theater – XRT des Staatstheaters Nürnberg in seinem ersten Stück „Mythos P.A.N.“: Um einen Menschen digital kopieren zu können, muss man wissen:
Was ist der Mensch? Was macht ihn aus?
Seinen Körper und seine Bewegungen? Seine Ideen und Gedanken und Gefühle? Wenn wir unser Selbst abbilden wollen, müssen wir das irgendwie lokalisieren. P. A. Neurath war Theatermacher und Digitalpionier. In seinen letzten Jahren arbeitete er wie besessen an einer Maschine – und verschwand spurlos. Sein Leben ist ein Rätsel, nur in wenigen, widersprüchlichen Fragmenten überliefert. Der Theaterabend „Mythos P.A.N.“ versucht, die Puzzleteile zusammenzusetzen, Neuraths Leben zu rekonstruieren und ihn wieder auferstehen zu lassen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Inszenierung spiegelt eine Vielzahl an Fragen, mit der uns die technische Entwicklung konfrontiert: Wir leben in einer Welt, in der sich eine gemeinsame Wirklichkeit und Wahrheit zunehmend auflöst. Gerade im digitalen Raum sind wir von immer mehr Bildern umgeben, die die Realität nicht nur abbilden, sondern sie auch herstellen, manipulieren und verfälschen.

Eröffnung des XRT

Eindruck des Stückes Symmetrie
„Mit dem XRT in der 3. Etage des Schauspielhauses schaffen wir am Staatstheater Nürnberg einen einzigartigen Ort für digitale Theaterformen und digitale Schauspielkunst“, erklärt Schauspieldirektor Jan Philipp
Gloger. „Die Digitalisierung ist ein wesentlicher gesellschaftlicher Transformationsprozess, der uns alle betrifft“, sagt der Initiator der neuen Spielstätte. „Wenn Theater Gegenwart beschreiben will, muss es hier aktiv mitspielen. Wir sehen es als Auftrag, unsere künstlerischen Mittel stetig zu erweitern. Das gilt gerade auch für Theaterkunst mit digitalen Technologien und Erzählweisen. Dank der eigenen Spielstätte werden virtuelle Welten buchstäblich begreifbar.“ Im „Extended Reality Theater – XRT“ werden ab der Spielzeit 2023/24 vier Produktionen pro Saison gezeigt. Aktuell kann man im neuen Stück „Symmetrie“ gemeinsam mit den Schauspielern in eine virtuelle Welt eintauchen und einen Kriminalfall erleben. Für die Lösung des Falls gibt es auch eine Aufgabe für das Publikum.